Die zerstörte Stadt. Zwischen Zäsur und Kontinuität

Die zerstörte Stadt. Zwischen Zäsur und Kontinuität

Organizer(s)
Christoph Dartmann / Franziska Quaas / Theresia Raum, LFF-Forschungsgruppe „Gewalt-Zeiten: Temporalitäten von Gewaltunternehmungen“, Universität Hamburg
Location
Hamburg
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
12.05.2023 - 13.05.2023
By
Louisa Darge, Arbeitsbereich Mittelalterliche Geschichte, Universität Hamburg

Der Fokus der Tagung lag auf dem Spannungsverhältnis zwischen disruptiver Gewalt und Kontinuitätsprozessen bei der Zerstörung von Städten im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen. Im Rahmen einer kulturhistorisch orientierten Diskussion wurden Beispiele von Belagerungen, Eroberungen und Zerstörungen, aber auch das Weiterexistieren von Städten von der Antike bis in die Neuzeit diskutiert, um in einem epochenübergreifenden Vergleich die Vielschichtigkeit von Gewaltzeiten zu analysieren.

Die Tagung und zugleich die erste Sektion eröffnete CHRISTOPH DARTMANN (Hamburg) mit einer aktuellen Bezugnahme der Tagungsthematik auf die Angriffe auf ukrainische Städte durch die russischen Truppen. Die Zerstörungen von Städten gehören zu den zentralen Momenten der Kampfhandlungen wie auch der medialen Berichterstattung. Während der Angriffe auf Städte als herausragenden Schauplätzen von Kriegen und Gewalt konnten und können die Zeitwahrnehmung und gestaltung derjenigen deutlich unterschiedlich sein, die als Angreifende oder Verteidigende involviert sind. Die Analyse der Temporalität von Gewalt in den Dimensionen des Ausübens von Gewalt, des Erfahrens und Erleidens von Gewalt und der Erzählung von Gewalt am Beispiel von Städten eröffne neue Perspektiven in der Erschließung temporaler Dimensionen kollektiver Gewalt in der historisch-kulturwissenschaftlichen Arbeit. Dieses Potenzial kann ein differenziertes Spektrum von Fallstudien und konzeptionellen Überlegungen sichtbar machen.

FRANK ROCHOW (Cottbus) setzte sich mit der Frage auseinander, wie das Ereignis der Stadtzerstörung in das kollektive Gedächtnis, also in die Sphäre der Erinnerung, übergeht. Dafür diskutierte er Konzepte, die Raum und Zeit zueinander ins Verhältnis setzen, und zeigte die Konstruktion von durch Zerstörungen gezeichnete Stadtlandschaften und die Idee der zeitlichen Sedimentierung einer Stadt anhand des Beispiels einer Karte Moskaus aus dem Jahre 1814 auf. Im Hinblick auf die Beschreibung des städtischen Erinnerungsraumes erörterte er kritisch die Metapher des Palimpsests und wies alternativ auf Nadia Bartolinis Modell der Brekzie hin.

Zu Beginn der zweiten Sektion präsentierte LENNART GILHAUS (Bonn/Essen) den Bericht Diodors über die Zerstörung der phönikischen Siedlung Motye durch den syrakusianischen Tyrannen Dionysios I. als Beispiel für Sturmangriffe auf antike Städte. Auf der Ebene des Gewalthandelns konstatierte er, Sturmangriffe seien in der griechischen Welt kaum koordiniert worden und von karnevalesken Episoden entgrenzter Gewalt geprägt gewesen. Zugleich nutze der Berichterstatter Diodor die Schilderung, um die Gewaltexzesse als legitime Reaktion auf vergangene Grausamkeiten der Gegenseite zu stilisieren. Im Gegensatz dazu stelle (der Grieche) Polybios den Angriff der Römer auf Karthago Nova als streng reglementierten, koordinierten Vorgang von erheblicher Brutalität dar.

GREGOR DIEZ (Graz) diskutierte die Zerstörung Korinths im Jahr 146 v. Chr. durch die Römer und stellte fest, dass weder die Quellenlage noch die Forschung zur Chronologie und zu den Motiven der Zerstörung eindeutig seien. Ein besonderes Augenmerk legte er auf die Rolle des Konsuls Lucius Mummius, wobei er vor allem die Karrierechancen betonte, die Mummiusʼ aggressives Agieren möglicherweise motiviert haben.

Mit den Res Gestae des Ammianus Marcellinus stellte CHRISTINA KECHT (Passau) eine Quelle vor, die zahlreiche Beispiele von Städtezerstörungen in den Grenzregionen Mesopotamiens in den Jahren 359 bis 363 n. Chr. beinhaltet. Anhand der Erwähnungen analysierte er die Verläufe einer solchen Städtezerstörung sowie die Möglichkeiten des Umgangs von Städten mit der Bedrohung durch feindliche Truppen. Die Zerstörungen sowohl der physischen Strukturen einer Stadt als auch der damit verbundenen Lebensweise wurden mit dem Konzept des Urbizids in Verbindung gebracht und diskutiert.

Zum Abschluss der Sektion wandte sich DAVID HAGER (Amiens) der Zerstörung französischer Städte vor allem abseits der Front durch deutsche Bombardements im Ersten Weltkrieg zu. Die zeitgenössischen Bilder der verursachten Schäden auf Postkarten und Fotografien zeigten, dass neben den materiellen Auswirkungen vor allem die Bilder der Zerstörungen die Bevölkerung der Städte stark beeinflussten. Zusammen sorgten sie für den Eindruck einer brutalen Entgrenzung des Kriegs über den Raum der eigentlichen Frontlinien hinaus.

Zum Auftakt der dritten Sektion diskutierte CHRISTIAN SAEHRENDT (Thun) die Zerstörung Kassels im Zweiten Weltkrieg, die eine entscheidende Zäsur im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft darstelle. Infolgedessen habe die Stadt versucht, ihre Vergangenheit mithilfe der Kunstausstellung „documenta“ und einer neuen Selbstdefinition als modernistische und ästhetisierte Kunststadt zu kurieren. Dabei spielten die Inszenierung der Ruinen, das Überschreiben der Tradition eines Schwerpunkts deutscher Waffenproduktion wie auch die Selbstpräsentation als Stadt der Moderne eine zentrale Rolle.

Am Beispiel der Stadt Temeswar, die im Jahre 1716 von den Habsburgern belagert und eingenommen wurde, diskutierte STEPHAN STEINER (Wien) die Überbauung der Stadt als Wiederaufbau oder als Zerstörung. Die Neukonzeption der Stadt in den Jahrzehnten nach der Einnahme habe ihre Struktur und ihr Erscheinungsbild radikal verändert. Dieser Umgang der Stadt als neoacquisticum sei nicht nur in der Überbauung zu einer modernen Festungsstadt zu beobachten, sondern auch in den demographischen Veränderungen, die gleichzeitig sowohl eine Entosmanisierung als auch eine Germanisierung verzeichne.

ALEXANDER QUERENGÄSSER (Halle/Saale) stellte mit der Bombardierung Dresdens durch Preußen im Jahr 1760 eine bedeutende Zäsur der Stadt und ihrer Stadtbaugeschichte vor. Einerseits hätten die Zerstörungen Raum für die Neukonzipierung städtischer Räume eröffnet, für die François de Cuvilliés verantwortlich gezeichnet habe. Andererseits habe sich die Umorientierung symbolischer Politik entscheidend auf den Wiederaufbau ausgewirkt, weil der Hof nicht mehr wie zuvor große Geldsummen für kulturelle Repräsentation zur Verfügung gestellt habe. Dieser politische Kurswechsel von 1763 habe einen großen Einfluss auf die Regeneration der Stadt genommen, die trotz des Willens zu urbaner Kontinuität einer neuen sozialen Struktur Rechnung getragen habe.

Die vierte und letzte Sektion eröffnete SEBASTIAN HANSTEIN (Siegen) mit den Berichten Salvians über die Zerstörung gallischer Städte – darunter Trier und Mainz – durch die Germanen im 5. Jahrhundert. In den ausführlichen Darstellungen und Deutungen der zerstörten Städte zeige Salvian eine Zäsur der aristokratischen Ideale auf, die in einer christlichen Neuausrichtung trotz der Zerstörungen eine Kontinuität des Römischen Reichs ermöglichen sollten. Die Dramatisierung der gewaltsamen Zerstörungen habe Salvian dazu gedient, die moralische Katastrophe der römischen Aristokratie zu akzentuieren.

CHRISTOPH PRETZER (Bern) zeichnete die zeitlichen Perspektivierungen auf, die in dem literarischen Fortleben Akkons nach der Eroberung im Jahr 1291 entwickelt wurden. In Stadtklagen aus verschiedenen Federn fänden sich faszinierende Pfade, die das erzählerische Ich zwischen der Gegenwart der zerstörten Stadt, der Klage über die verlorene Vergangenheit und der Perspektive auf eine bessere Zukunft nehme. Damit werde erreicht, den Untergang der Stadt zu plausibilisieren und zugleich die Perspektive auf eine Überwindung der Gegenwart zu ermöglichen; andererseits werde der Stadt über ihre Zerstörung hinaus mithilfe von Hoffnung auf Rettung in Richtung Ewigkeit Kontinuität verliehen.

Mit den beiden Bildwerken des Verlagshauses Merian – „Theatrum Europaeum“ und „Topographia Germaniae“ – stellte MARKUS LAUERT (Paderborn) zwei Quellen vor, die auf die Zerstörung Magdeburgs während des Dreißigjährigen Kriegs, die berüchtigte „Magdeburger Hochzeit“ reagiert haben. Die beiden Projekte Merians zeigten das Spannungsverhältnis zwischen städtebaulicher Kontinuität und disruptiver Gewalt sowie die historiographische und topographische Verarbeitung der Zerstörung Magdeburgs 1631. Darüber hinaus seien sie als Reflexion über die Temporalität der Gewaltzeiten zu verstehen, in der die Gewalterfahrung in ein heilsgeschichtliches Koordinatensystem eingetragen worden sei und der Krieg somit eine metaphysische Bedeutungsdimension erhalten habe.

Im abschließenden Vortrag zeigte ANKE NAPP (Hamburg) anhand der beiden Bildbände „Der Kölner Dom“ und „Alt-Berlin“ eine weitere Quellengattung vor, die sich mit zerstörten Monumenten in Städten und ihrer Kontextualisierung – hier im Zweiten Weltkrieg – befassen. Der erste Bildband ¬– eine Folge von Aufnahmen, die für öffentliche Vorträge genutzt werden sollten – betone den Dom als Symbol der deutschen Identität und kulturellen Zerstörung. Entstanden während der Weimarer Republik im Zusammenhang der Besetzung des Rheinlands, wurden während des Zweiten Weltkriegs Einzelbilder von Zerstörungen am Dom eingefügt. Der zweite Bildband aus der DDR zeigt Berliner Bauwerke und ihre Restaurationen als Mahnmale für den Frieden, die nicht bloß als Wiederherstellung eines alten Zustandes gesehen werden, sondern als Zeichen der Überwindung des Alten, das zur Zerstörung führte, aber auch die Perspektive auf eine bessere Zukunft impliziere.

Insgesamt konnte die Tagung aufzeigen, wie fruchtbar die Frage nach dem Spannungsfeld von disruptiver Gewalt und urbanistischer Kontinuität gerade auf Städte in der Vormoderne und der Moderne angewendet werden kann, um die Sedimentierungen und Brektien aufzuzeigen, die kriegerische Ereignisse in städtischen Räumen hinterlassen haben. Dabei traten nicht nur die Lebenswelten und städtischen Strukturen in den Fokus der Diskussion, sondern ebenso Städte als Symbole für größere Kollektive und groß angelegte politisch-militärische Initiativen. In ihrem Abschlusskommentar zur Tagung betonte Birthe Kundrus (Hamburg) als zentrale Herausforderung, die Erforschung von Temporalitäten von Gewaltinitiativen, von Zeit, plurale Zeitlichkeiten und Raum zusammenzudenken. Dafür habe sich das Thema der zerstörten Stadt als sehr gut geeignetes Paradigma erwiesen. Der Gewinn aus einer interepochalen Betrachtungsweise bestehe einerseits aus dem Blick für Kontinuitäten oder Parallelen. Andererseits eröffne dieser Zugang neue Perspektiven wegen der Fragen, die erst der interepochale Austausch aufwerfe. Zum Beispiel habe sich das Verschwinden von Menschen – als Opfer oder als Geflüchtete – wie ein implizites Thema durch alle Vorträge gezogen. Außerdem erscheine es verheißungsvoll, das zusammengetragene Material auch in emotionshistorischer Perspektive noch einmal neu zu beleuchten. Schließlich stelle sich die Frage, wie sich die Interferenz zwischen Zeitlichkeit als narrativer Koordinate und Zeitlichkeit als Wahrnehmungskategorie operationalisieren lasse. Somit stand am Ende der gemeinsamen Arbeit noch einmal das Kernanliegen im Zentrum, GewaltZeiten als ein Thema zu fassen, das Gewaltpraktiken und die Repräsentationen von Gewalt miteinander verschränkt.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Stadt – Gewalt – Zeit

Christoph Dartmann (Hamburg): Begrüßung und Einführung

Frank Rochow (Cottbus): Vom Ereignis zur Erinnerung. Theoretische Überlegungen zur zeitlichen Sedimentierung von Stadtzerstörungen

Sektion 2: Die (nicht) zerstörte Stadt

Lennart Gilhaus (Bonn/Essen): Sturmangriffe als Zeiten der Entgrenzung – Die Zerstörung von Moye als Modell für Stadteinnahmen in der griechischen Welt

Gregor Diez (Graz): Corinto delete – Mummiusʼ Motive zur Zerstörung Korinths

Christina Kecht (Passau): „Auch diese Stadt wurde eingeäschert“. Expliziter Urbizid und genozidale Randnotizen in den Res Gestae des Ammianus Marcellinus

David Hager (Amiens): „Que de ruines! Quand donc sera-t-on tranquille?” Die Zerstörung französischer Städte abseits der Front durch deutsche Bombardements, 1914–1918

Sektion 3: Narben im Stadtbild

Christian Saehrendt (Thun): Heilung durch Kunst? Die Zerstörung Kassels im Zweiten Weltkrieg und die Reinkarnation als „documenta-Stadt“

Stephan Steiner (Wien): Über die zerstörerische Kraft der Architektur. Ist es eine Zerstörung? Ist es ein Wiederaufbau? Anmerkungen zum frühneuzeitlichen Temeswar

Alexander Querengässer (Halle): „Selbst in Dresden findet man noch eine Anzahl von Häusern in Ruinen“. Die Bombadierung von 1760 und ihre Folgen

Sektion 4: Narben in der Erinnnerung

Sebastian Hanstein (Siegen): Zerstörte Städte, Tod, Trauma und Zirkusspiele als Trostmittel während der Völkerwanderung in Gallien

Christoph Pretzer (Bern): Ubi est Accon, ubi sunt ecclesie christianorum, que ibi erant? Akkon zwischen Untergang und Ewigkeit

Markus Lauert (Paderborn): Die Eroberung Magdeburgs 1631 im Spiegel der Historiographie und Topographie Matthäus Merians

Anke Napp (Hamburg): Ruinen als Fokalpunkt von Zerstörung und Wiedergeburt von Stadt und Volk

Birthe Kundrus (Hamburg): Abschlusskommentar

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